Braucht Europa Gebote? Braucht es Werte? Braucht es gemeinsame, gemeinschaftliche Werte für alle 27 Mitgliederstaaten?

Und wenn ja: Braucht Europa Werte, die, wie die 10 Gebote des Alten Testamentes, religiös orientiert sind? Christlich orientiert sind? Die sich auf Gott berufen?

Meine These: Europa braucht zum Überleben nicht nur gemeinsame wirtschaftliche und politische Interessen und Beziehungen, sondern grundsätzlich eine gemeinsame christliche Wertebasis. Den Dekalog zum Beispiel.

10 Gebote für Europa. Für ein Europa, das gebaut wurde, damit es schützt. Vor Okkupation oder Exklusion. Und stärkt. Wenn 27 Mitgliederstaaten mit einer Stimme sprechen, dann findet diese Stimme in einer globalisierten Welt Gehör. Wenn sie denn mit einer Stimme sprechen.

Für ein Europa, das gebaut wurde, damit es fördert. Und entwickelt. Der Euro macht nicht nur das Reisen leicht, ermöglicht uns nicht nur den Einkauf in Wien ohne kompliziertes Umrechnen in Schilling - der Euro rettet uns auch vor der einen oder anderen Finanzkrise. Wenn sich die Mitglieder an die abgesprochenen Regeln halten. Sonst stürzt er sich und Europa in die Krise.

Für ein Europa, das gebaut wurde als Gemeinschaft. Gemeinschaft ist nicht immer nur mit Lust, sondern immer auch mit Pflicht verbunden. Mehr Pflicht als Lust in den letzten Monaten, würde man zugeben müssen. Wenn da nicht vor 2 Wochen der Grand Prix gewesen wäre. Ein Segen für Europa. Es gibt nur wenige Ereignisse in Europa, die so vereinen wie der Eurovision Song Contest. Er ist die Bühne für ein Europa der gleichen Chancen. Wo sonst könnten Moldawien oder Mazedonien noch Europameister werden. Lena singt für Deutschland und sammelt -„12 points go to Germany" - 246 Punkte dafür ein, quer durch Europa. Griechenland bedenkt die Deutschen mit zwei mageren Punkten, das ist ärgerlich. Mehr ist aber von der Eurokrise in Oslo nicht zu spüren. Alte Allianzen weichen auf. Europa wächst zusammen.

10 Gebote für Europa. Für ein Europa, das gebaut wurde, um uns Freiheit zu geben. Eine Erfahrung von Grenzenlosigkeit, von der der Marokkaner nur träumen kann. Ohne Pass von Paderborn nach Madrid zu reisen und nicht kontrolliert zu werden - diese Freiheit genießen wir weltweit alleine. Nur wir dürfen in 26 Nachbarländern im Großen und Ganzen problemlos arbeiten und wohnen, Häuser bauen und Land besitzen - und die eigene Krankenversicherung in Anspruch nehmen. Ein einzigartiges Privileg. Es beruht auf 27-fachem Wunsch nach Freiheit.

Es gilt, wenn Freiheit 27-fach gleich oder wenigstens ähnlich buchstabiert wird.

Dann ist Europa unsere Chance - auf Gemeinschaft und deren Schutz, auf gerechte Entwicklung und Förderung, auf Freiheit.

10 Gebote für Europa. Damit Europa sich grundsätzlich einigen kann auf eine Zukunft in Freiheit und Gerechtigkeit. Wo, wie in Europa, nicht nur unterschiedliche Generationen und zwei Geschlechter zusammenkommen, sondern viele Kulturen, Religionen, Politische und Wirtschaftliche Programme, da gibt es viele und unterschiedliche Antworten auf die Frage nach dem, was den Menschen in Europa und außerhalb Europas gerecht wird. Zunächst nebeneinander. Spätestens dann, wenn die verschiedenen, miteinander konkurrierenden Vorstellungen in einer konkreten Situation aufeinander treffen, gegeneinander.

10 Gebote für Europa. Damit eindeutig und verlässlich geklärt ist, was gerecht ist und was ungerecht. Was in die Freiheit führt und was in die Unfreiheit. Solche eindeutig und verlässlich orientierenden Vorstellungen halten Religionen vor; in den Mitgliedländen der europäischen Gemeinschaft immer schon und nach wie vor die jüdisch-christliche Tradition. In dieser Tradition steht am Anfang der Geschichte Gottes mit den Menschen die Befreiung. Jahwe befreit sein Volk aus der Sklaverei und nun sucht das Volk einen Weg, diese Freiheit zu entwickeln. Das Volk erfährt: Man hält die geschenkte Freiheit nicht durch Freiheit beschneidende Sicherheiten, nicht durch Beobachten und Bewachen, nicht durch Kontrollieren und Reglementieren. Es gibt einen anderen Weg. Gott weist ihn in den 10 Geboten.

Vor 3000 Jahren dem kleinen Volk Israel, das sich nach dem Auszug aus Ägypten, in der Situation neuer unbekannter Freiheiten und ihrer Risiken auf den Weg macht, das von Gott verheißene Leben in Freiheit zu leben.

Heute den multioptionalen Gesellschaften Europas, die sich in der Situation immer größerer Freiheiten und ihrer Risiken für alle auf den Weg machen, in allen Bereichen, in allen sozialen Systemen, im Sozialen, im Wirtschaftlichen oder im Politischen das von Gott geschenkte Leben in Freiheit zu leben.

10 Gebote für Europa. Wie orientieren die 10 Gebote des Alten Testamentes Europa? Wie orientieren sie europäische Gesellschaften in riskanten Zeiten in Richtung Freiheit"? Schauen Sie sich mit mir die 10 Gebote an und lassen Sie uns jedes Gebot, mal etwas ausführlicher, mal nur kurz angerissen, befragen: Wohin führt uns dieses Gebot für das Volk Israel heute?

1. Gebot: Du sollt neben mir keine anderen Götter haben.

Ich bin - so eröffnet Gott seine Freiheitsverfassung - Jahwe, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland aus der Knechtschaft geführt habe ..." (Ex 20,2). Das befreite Volk wird diese Freiheit nicht aufs Spiel setzen. Israel weiß, es gibt viele Götter, andere Götter. Aber es weist diese Götter ab. Israel ist das von Jahwe befreite Volk. Es weiß: Wendet es sich anderen Göttern zu, dann setzt es andere Erfahrungen neben die der Freiheit. Und verspielt damit seine Freiheit.

Was heißt das heute - und für Europa? Hier geht es um Identität.

„Das sind wir und das nicht!" „Das passt zu uns und das nicht!" Identität heißt, sich positiv für eine Kultur zu entscheiden. Identität heißt, sich abgrenzen zu können von dem, was nicht zu einem gehört. Europa hat eine Identität, die es abhebt von anderen, eine Kultur, die es unterscheidbar macht.

Man kann sich auf den Philosophen Immanuel Kant so gut wie auf Papst Benedikt XVI. berufen, wenn man behauptet, dass es auf Dauer keine Kultur geben kann ohne religiöse Rückbindung. Die Achtung Gottes ist eine Forderung der praktischen Vernunft, sagt Kant. Wo man Gott nicht beachtet, droht Unmenschlichkeit. Auch der, der Gott nicht bejahen kann, sollte deshalb versuchen - so mahnt Papst Benedikt XVI. -, in der Welt zu leben, („veluti si Deus daretur") als ob es Gott gäbe. In diesem Sinn verwies er die Europäische Union in seiner Rede zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge auf ihre christlichen Wurzeln: "Es ist nicht möglich, ein wahres gemeinsames europäisches Haus zu bauen, wenn man die Identität der Völker unseres Kontinents vernachlässigt."

Die Identität Europa ist geprägt von einer christlichen Kultur. Dessen muss Europa sich bewusst sein. Es geht um eine selbstbewusste christliche Kultur. Selbstbewusst genug, Menschen aus fremden Kulturkreisen zu integrieren. Selbstbewusst genug, eine Multikulturalität zu fördern, in der man sich gegenseitig respektiert. Aber auch selbstbewusst genug, sich abzugrenzen. Offenheit hat ihre Grenze in ihrer Offenheit und Toleranz selbst: Sie fordert eine Abgrenzung gegenüber allem und jedem, was Offenheit und Toleranz missbraucht.

2. Gebot: Du sollst den Namen Deines Herrn nicht missbrauchen.

Weil Gott der ist, der befreit, und weil das Volk Israel das von Gott befreite Volk ist, verbietet das 2. Gebot dem Volk Israel alle denkbaren Pervertierungen der Freiheitsmacht - sonst verspielt es seine Freiheit.

Was heißt das heute - und für Europa? Hier geht es um Integrität.

Integrität ist die Selbstübereinstimmung mit den Werten, denen man sich verpflichtet hat. Ein „anything goes", das alles für möglich erklärt, wenn es sich nur verkauft, würde das Vertrauen, das man in ein christliches Europa und in die christlich begründeten Werte hat, verspielen. Europa muss nach außen und nach innen für seine christliche Kultur und für entsprechende Werte stehen.

Auch, wenn sich da längst nicht alle einige sind: Die Diskussion um die Aufnahme des christlichen Bezugs in die Verfassung Europas und ihr Ausgang zeigt das. Unterschiedlich begründet wird „Gott in der europäischen Verfassung" abgelehnt: Es sei ein Missbrauch, wenn der biblische Gott in einem säkularen Vertragswerk erscheine. Eine eher unspezifische Rede von Gott habe in einem staatlichen Verfassungstext nichts zu suchen. Der Glaube als Gegenstand persönlicher Gewissensentscheidungen passe nicht in eine Verfassung. Das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat werde durch einen Gottesbezug in der Verfassung verletzt. Der Staat, zur weltanschaulichen Neutralität verpflichtet, müsse die Autonomie seiner demokratischen Rechtsordnung wahren. Ein Gottesbezug würde die Menschenrechte als Basis der Verfassung in das zweite Glied verschieben. Es könne eine Privilegierung der Juden und Christen bedeuten, da der Gottesbezug ipso facto auf das jüdisch-christliche Gottesbild verweise. Überheblichkeit der Juden und Christen gegenüber Andersgläubigen und Atheisten sei die Folge.

Manch ein europäischer Staat strebt bewusst eine Politik ohne Tradition und Transzendenz an. Mit dem Ziel, die Verfassung nicht an vorgegebene, unverfügbare Grundwerte zu binden. Die evangelische und katholische Kirche Deutschlands haben - Gott sei Dank - an ihrer Forderung nach einem Gottes- bzw. Transzendenzbezug für die Präambel des Vertrags von Lissabon festgehalten. Entsprechend der Weisungen des Zweiten Gebotes.

3. Gebot: Achte auf den Feiertag. Halte ihn heilig.

Das 3. Gebot schützt den Sabbat als einen besonderen Tag. Wenn Israel den Sabbat auch unter schwierigen Bedingungen, im Exil, als Tag der Befreiung feiert und als Tag der Ruhe hält, dann stützt es eine Zeit- und Lebensordnung, die dem Menschen gut tut - und stärkt seine Freiheit.

Was heißt das heute - und für Europa? Hier geht es um Heilige Zeit.

Europäische Gesellschaften brauchen den Sonntag. Es muss in modernen, hoch entwickelten und effizient funktionierenden Gesellschaften gesicherte Zeiträume geben, die nicht schon wieder verzweckt sind. Gemeinsame „heilige Zeiten". Zeiten, die Arbeitsruhe sichern, die Gemeinschaft ermöglichen und (im gemeinsamen Feiern des christlichen Sonntags auch:) Identität.

Eine heilige Zeit - einerseits vom modernen flexiblen und mobilen Menschen ersehnt, andererseits unter den Bedingungen der modernen Wirtschaft zunehmend unmöglich. Die Wirtschaft braucht den flexiblen Menschen. Flexibilität ist zum Zauberwort geworden. Die Zeiten, als sich das Leben, auch das Arbeitsleben, an die Natur anschmiegte, als der Rhythmus von Sonne und Mond, von Hell und Dunkel, der Rhythmus der Jahres- und Tageszeiten, der Rhythmus der Woche Arbeit und Ruhe bestimmten - die sind vorbei. Jedem ist jederzeit, alles, immer und sofort möglich. Nicht alles zu seiner Zeit, sondern alles zu jeder Zeit. Mit der Zeit hat sich das Leben verändert. Die Flexibilität hat „Nebenfolgen". Wenn alles immer und überall und zu jeder Zeit möglich ist, dann sind wir gezwungen, zu

entscheiden, was wir wo, wann tun oder nicht tun. Nichts steht mehr fest. Zeit zum Essen, Zeit zum Arbeiten, Zeit zum Beten, Zeit zum Ruhen - sie muss gesucht und verteidigt werden. Wer heute mit gutem Gewissen zu Bett geht, der braucht ein Motiv.

Alles ist immer und zu jeder Zeit möglich. Arbeit und Ruhe, Arbeitszeit und Freizeit - alles ist zu jeder Zeit möglich. Jeder zu einer anderen Zeit. Aber wie gemeinsam? Eigene freie Zeit braucht die freie Zeit der anderen. Nur gesellschaftlich gesicherte freie Zeit ermöglicht gemeinsame Zeit. Aber die schwindet. Nach dem Abend, die Nacht. Nach der Nacht, der Samstag. Nach dem Samstag, bald auch der Sonntag.

Menschen haben das Bedürfnis nach einer verlässlichen „Freizeit", einer Zeit, in der Ruhe möglich ist, in der aber auch, wenn sie als gemeinsame freie Zeit mit anderen Menschen gesichert ist, Gemeinschaft und gemeinschaftliche Aktivitäten möglich sind. Die christliche Tradition antwortet auf dieses Bedürfnis mit der Einrichtung des Sonntags.

Das wird zunehmend zum Dilemma: Auf der einen Seite die Notwendigkeit, einen individuellen und (weil das Ruhen von der Arbeit nur möglich ist, wenn es sozial eingehalten wird) sozialen Tag der Ruhe herauszuschneiden aus dem Alltag. Auf der anderen Seite die Notwendigkeit, die soziale Ruhe zu brechen, weil Menschen auf Dienste angewiesen sind. Politische und kulturelle Phantasie der Europäer ist gefragt, wenn es darum geht, den Sonntag auch da, wo man im Dienst der Sicherheit zum Beispiel, der Kultur, des Verkehrs, der Gesundheit oder der Freizeit keinen sozialen Tag der Ruhe einhalten kann, als grundsätzlich besonderen Tag in der Zeit- und Lebensordnung zu bewahren.

4. Gebot: Ehre Deinen Vater und Deine Mutter.

Das 4. Gebot richtet sich an den israelitischen Hausvater und hat dessen Verhalten gegenüber seinen alt gewordenen Eltern im Auge. Wenn das Volk Israel solidarisch das (Über-) Leben derer sichert, die bisher das Überleben der Kinder gesichert hatten, jetzt aber auf sie angewiesen sind, sichert es seine eigene Nachhaltigkeit - und seine Freiheit.

Was heißt das heute - und für Europa? Hier geht es um Generationensolidarität.

Generationensolidarität wird im modernen Europa als Problem der Jugend diskutiert und als Problem der Alten praktiziert. Jeweils stellt sich die Frage: Welche Chancen hat das Alter, haben wir im Alter, in Europa?

Die Qualität des Alterns hängt, das wissen wir, an den individuellen Ressourcen. Körperliche Gesundheit, Fitness, psychische Stärke, geistige Mobilität und Flexibilität - die lassen, unterschiedlich ausgeprägt, das Alter unterschiedlich erleben. Einerseits.

Die Qualität des Alterns hängt aber, das erfahren wir zunehmend schmerzlich, auch an den sozialen Bedingungen: Am Sozialsystem, am Gesundheitssystem, am Wirtschaftssystem. Wie lange und wo arbeitet der alte Mensch? Was wird ihm zugestanden an Rente oder Pension? Was hält man an medizinischen Behandlungen im Alter für notwendig oder vertretbar? Welche Pflege lässt man ihm zukommen? Je nachdem, ob man in Deutschland, Italien oder England lebt?

Groß sind die Unterschiede im Altern - genetisch und kulturell bestimmt, von Individuum zu Individuum, von Kultur zu Kultur. Nicht einmal die Alten sind mehr das, was sie einmal waren. Aber sie werden, das zumindest ist zweifelsfrei festzustellen, in Europa immer älter und immer mehr. Im Verlauf des letzten Jahrhunderts sind in den europäischen Gesellschaften, vor allen in den westeuropäischen Ländern, pro Leben im Schnitt zwei Jahrzehnte dazu gekommen. Männer werden heute ca. 74 Jahre alt, Frauen werden ca. 80 Jahre alt, mit steigender Tendenz. Zwei Jahrzehnte Leben mehr pro Mensch -je nachdem, unter welchen Bedingungen sie gelebt werden: Geschenkte Lebenszeit oder verlängerte Restzeit! Wie geht man mit den neuen Jahren um? Können wir die neuen Jahre - irgendwo zwischen 55 und 75 vielleicht - mit Leben füllen? Kann man mit dem neuen Spannungsbogen in der Biografie umgehen? Oder landet man zwischen allen Stühlen? Hier zu alt - da zu jung. „Junge Alte." „Alte Junge." Ein „drittes Leben" vor dem „vierten Leben".

Selbst die Sprachen scheitern. Das „dritte Leben" - eine Lebensphase, für die es nirgendwo eine historisch gewordene, keine kulturell vorgefertigte Lebensform gibt. Niemand weiß, wie es gelebt wird, dieses Leben. Möglichkeiten und Grenzen sind noch nicht ausgelotet. Europa altert ohne Vorbild. Die alten Bilder stimmen nicht mehr, neue gibt es noch nicht. Angewiesen auf soziale Imagination und politische Entschlusskraft.

Zwei Jahrzehnte Lebenszeit mehr. Nach dem wie auch immer gestalteten „dritten Leben" dann doch irgendwann die Zeit, die „viertes Leben" heißt. Die Lebenszeit, in der die körperliche, geistige und seelische Situation die Möglichkeit von Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit begrenzt. In der Ereignisse erlebt, aber nicht mehr gestaltet werden. In der die Angewiesenheit auf andere im Vordergrund steht. In der die Bemühungen um Autonomie der Fürsorge weichen. In Europa erkranken ca. 35% der über 90-Jährigen an Demenz. Altern in seiner radikalsten Form. Altern, das neue Rahmenbedingungen braucht. Bedingungen, die jedem Menschen eine individuelle Pflege sichern. Nicht nur dem, der genügend private finanzielle Mittel besitzt, legal auf die Hilfe der polnischen Nachbarn zurückzugreifen.

Zwei Jahrzehnte Leben mehr pro Mensch. Was bedeutet das für Europa? Weil gleichzeitig immer weniger Kinder geboren werden, ändert sich die demographische Struktur. Von der berühmten Pyramide zum Pilz. Ungenießbar. Denn: Wenn es stimmt, dass 2030 in Europa jeder dritte Mensch älter als 60 sein wird - was aber nur stimmt, wenn Frauen und Männern in Europa nach wie vor keine Lust auf Kinder haben, was wiederum nicht ein Frage der Entsorgung der Alten ist, sondern massiv ein Frage der Versorgung der Jungen - dann werden Alte nicht länger die gehegte und gepflegte Minderheit, sondern die gefürchtete Mehrheit sein.

Dass alte Menschen versorgt werden, ist in europäischen Gesellschaften humaner Mindeststandard. Senizid, Verfolgung und Vernachlässigung alter Menschen, auch die nicht unterstützende Behandlung alter Menschen - das stößt auf Empörung. Aber: Man spricht über das Altern mit unverhohlener Sorge: Wer bezahlt die vielen Renten? Wer pflegt die kranken Alten? Wer bezahlt die Pflege? Was heißt Generationengerechtigkeit? Der Generationenvertrag wird misstrauisch hinterfragt. Von wegen „pacta sunt servanda".

Fragen, die in Europa beantwortet werden müssen - hoffentlich im Sinne des 4. Gebotes, das dem Alter, gleich wie es verläuft, ein Höchstmaß an Freiheit zusichert.

5. Gebot: Du sollst nicht morden.

Das 5. Gebot verbietet das Morden im Sinne eines sinnlosen Tötens und gebietet gleichzeitig den Schutz menschlichen Lebens - beides in einer generellen Weise. Verbot und Gebot sind zwei sich ergänzende Seiten ein und derselben Medaille. Wenn Israel sich dem Schutz des Lebens verpflichtet, vor allen Handlungen schützt, die direkt oder indirekt das Leben anderer Menschen gefährden, schützt es damit seine Freiheit.

Was heißt das heute - und für Europa? Hier geht es um Leben - körperliches und geistiges Leben.

In alttestamentlicher Tradition ist der Mensch als Mann oder Frau mehrdimensional verstanden. Er ist Körper (bazár), Geist und Psyche (néfesch) und er hat den Geist Gottes" (rúach), eine „Seele", so könnte man es übersetzen. In allen diesen Dimensionen ist Leben zu respektieren. Und zu fördern. Da geht es um den Körper - mit allem, was wir mit Körper konnotieren: Sexualität, Empfängnis, Gebären, Säugen, Nähren, Stoffwechsel, Heranwachsen, Gesundheit, Stärke, Schwäche, Krankheit, Alter, Tod. Es geht um den Geist oder die Psyche - und um alles, was wir damit konnotieren: Die Lebenslust. Und die Gefahr, sie zu verlieren. Das Verlangen nach Glück und nach Liebe, nach Verstehen und Verstandenwerden, nach Einsicht und Erkenntnis, Kreativität und Fantasie. Und es geht um die Seele: Die göttlichen Kraft, die den Menschen lebendig und stark macht - in seiner Beziehung zu Gott.

Ein anspruchsvoller Schutzauftrag für Europa - wo es bisher nicht einmal gelingt, Menschen, die körperlich oder geistig stark beschädigt sind, am Anfang des Lebens vor Tötung zu schützen. Wo man je nach Mitgliedland damit rechnen muss, dass die Gesundheitsversorgung an die ökonomische Potenz der Patientin geknüpft wird. Bestimmten Personengruppen werden - Großbritannien zeigt, wie man es macht und rationiert für Menschen ab 70 teure Therapien - Leistungen vorenthalten. Wo man sich zwar darauf einigen kann, dass das Leben gegen Ende Begleitung braucht, aber nicht welche. Wo man, wie in Belgien oder der Schweiz, Sterbebegleitung als „Sterbehilfe" und die als Verkürzung der Lebenszeit und Beschleunigung des Sterbeprozesses versteht. Oder wo man, wie in Deutschland, von „Lebensbegleitung statt Sterbebegleitung" spricht und dem Schmerz, den man dem Leben nicht nehmen kann, ein Pallium, einen Mantel umhängt. Und einen schützenden Abstand schafft zwischen dem Schmerz und dem Willen, sein Leben aus der Hand zu geben.

Von Rechts wegen und im politischen Interesse erwartet man in Fragen des Sozial- und Gesundheitssystems nicht unbedingt eine Einigung, denn die sind Ländersache und werden daheim diskutiert. Aber: Europa auf dem Weg zu einer Wertegemeinschaft braucht diese Einigung.

6. Gebot: Du sollst nicht die Ehe brechen.

Das 6. Gebot verbietet es, die Frau, den schwächeren Partner in der Ehe, zu entlassen; auch wenn das rechtlich erlaubt ist. Wenn Israel das soziale Leben der Schwächeren schützt und deshalb gerade den Ehe-Vertragsbruch, der die materielle und soziale Sicherheit von Frauen legal ruiniert, negativ sanktioniert, dann schützt es seine Freiheit.

Was heißt das heute - und für Europa? Hier geht es um Verlässliche Vereinbarungen.

Es geht in der Orientierung am 6. Gebot nicht um Sexualität. Die hier und da auch übliche Obersetzung „Du sollst nicht Unkeuschheit treiben" führt am Sinn dieser Weisung jedenfalls vorbei. Hier geht es um die Ehe als partnerschaftliches Verhältnis. Um die Ehe als Beziehung, die durch einen Vertrag gesichert ist. Und darüber hinaus oder in Analogie dazu geht es um jedes verlässliche partnerschaftliche Verhältnis, jede vertraglich gesicherte Beziehung.

Im Vordergrund des Gebotes steht das Vertrauen verdienende Verhältnis, das der stärkere Partner zum schwächeren Partner hat. Die Sorge gilt dem Misstrauen, das vor allem der schwächere Partner haben muss, weil man ihm (legal und unter Umständen gesellschaftlich durchaus geachtet) seine Lebensgrundlage, die materielle und soziale, entziehen kann. Das hat seine Relevanz für Europa:

Zum einen fordert das Gebot vom Eherecht und seiner Handhabung in den europäischen Gesellschaften, dass es den Rahmen stelle für die Ehe als verlässliche Basis der Familie.

Darüber hinaus - oder in Analogie dazu - ist die europäische Gemeinschaft gefragt: Welche vertraglichen Sicherungen, welche Strukturen sind geeignet, eine verlässliche politische und wirtschaftliche Beziehung der Partnerstaaten untereinander, vor allem aber auch der stärkeren gegenüber den schwächeren Mitgliederstatten zu unterstützen?

7. Gebot: Du sollst nicht stehlen.

Wenn Israel das persönliche Eigentum des Einzelnen sichert und alle Handlungen unterbindet, die das Eigentum des anderen als dessen materielle Grundlage der Freiheit gefährden könnten, schützt es seine Freiheit.

Was heißt das heute - und für Europa? Hier geht es um Eigentum.

Gerechtigkeit im Zusammenhang mit Eigentum liest sich unterschiedlich: Als Verteilungsgerechtigkeit, als Beteiligungsgerechtigkeit und als Chancengerechtigkeit zum Beispiel.

Gerechtigkeit in Bezug auf das Eigentum zu betonen, hat im Christentum lange Tradition. So begründet zum Beispiel Thomas von Aquin den Wert des persönlichen Eigentums damit, dass jeder Mensch mit dem, was ihm allein gehört, sorgfältiger und effizienter umgeht als mit dem, was allen oder vielen gehört. Entsprechend sieht er „die menschlichen Angelegenheiten besser verwaltet ..., wenn jeder Einzelne seine eigenen Sorgen hat in der Beschaffung irgendwelcher Dinge". Thomas (und im Anschluss die Katholische Soziallehre) unterscheidet aber zwischen dem Erwerb des Eigentums und dessen Gebrauch. Das Recht auf privates Eigentum ist dem gemeinsamen Recht auf Nutznießung untergeordnet. Weil die Güter der Erde für alle Menschen da sind, sollen sie nicht als privates Eigentum, sondern „als Gemeinbesitz" zum Wohl aller genutzt werden. Das Eigentum ist verbunden mit sozialen Pflichten. Bis heute gilt das in den Wirtschafts- und Sozialsystemen Europas.

Damit nicht vereinbar ist das starke Gefälle zwischen den europäischen Staaten in Lohn und Sozialabgaben, das westeuropäische Unternehmen dazu motivieren, in Billiglohnländer abzuwandern bzw. auch innerhalb Europas umzuziehen. Nicht vereinbar damit sind Strukturen, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus unseren osteuropäischen Nachbarländern motivieren, in Deutschland oder England halb bis vollkommen illegale Beschäftigungsverhältnisse einzugehen.

Mindestlohn oder Kündigungsschutz sind nicht Thema der EU. Aber sie reguliert und normiert soziale oder wirtschaftliche Standards - sie hat nicht nur die Krümmung der Gurke normiert, sondern hat zum Beispiel auch eine geschlechtsspezifische Bezahlung verboten. Weltweit ist Europa die Region mit den höchsten sozialen Standards für die überwiegende Zahl seiner Bürger. Und in Zeiten der Globalisierung ist sie bester Garant dafür, diese Standards zu wahren.

8. Gebot: Du sollst nicht falsches Zeugnis reden ...

Wenn Israel zulässt, dass die Freiheit des Einzelnen gefährdet wird durch falsche Aussagen, die den anderen an Besitz, Leib und Leben gefährden, dann verspielt es damit die Freiheit des Volkes.

Was heißt das heute - und für Europa? Hier geht es um Kommunikation.

Die Möglichkeit zur Kommunikation ist wesentliche Bedingung von Freiheit - trotz oder auch gerade in der Spannung zwischen Sender und Empfänger. Innerhalb Europas gibt es eine Pflicht zur Kommunikation und Information. Das Unterschlagen von verlässlichen Aussagen über die finanzielle Situation, das Verschweigen von Verschuldung zum Beispiel, führt im Handumdrehen - die Konsequenzen des jüngsten (es ist davon auszugehen, nicht des letzten) entsprechenden Skandals erleben wir gerade in Wirtschaft und Politik - zur Finanz- ­und Wirtschaftskrise der übrigen europäischer Mitgliedländer.

Jede Kommunikation braucht Sender und Empfänger und deren entsprechende habituelle Bereitschaft. Aber sie braucht auch strukturelle Ermöglichung und Erleichterung: Orte und Zeiten, an und zu denen Fragen und Konflikte diskutiert werden können. Wo vertikal und horizontal, mal regelmäßig und formell, aber auch situationsabhängig und informell kommuniziert werden kann. Europa braucht eine Struktur, die Partizipation und Beteiligung sichert: Ein Parlament, das näher an die Bürger rückt; einen Rat, der seine Beschlüsse kommuniziert und für Transparenz von Entscheidungen sorgt; Medien, die sich nicht darauf beschränken, europäische Disharmonien (aktuell die zwischen Frankreich und Deutschland) auszuschlachten.

9. Gebot: Du sollst nicht nach dem Haus und Hof Deines Nächsten verlangen.

Du sollst, heißt das, dem anderen nicht wegnehmen, was ihm gehört und was er zum Leben braucht. Es geht um jeden denkbaren Zugriff, auch den rechtlich und gesellschaftlich legitimierten, auf die Lebensgrundlage des anderen. Die aufgezählten Lebensgrundlagen folgen einem traditionellen Muster. Danach braucht der Mann „drei Dinge", um in Freiheit leben zu können: Frau, Haus, Hof. Hier geht es um das Haus und den Hof als sicheren sozialen Lebensraum - die Frau als private Lebengrundlage wird im 10. Gebot genannt. Haus und Hof müssen als soziale Lebensgrundlage für den Menschen wie für das Volk gefördert und geschützt werden. Sonst verliert Israel seine Freiheit.

Was heißt das heute - und für Europa? Hier geht es um die Soziale Lebengrundlage

Die Soziale Umwelt, die politische und wirtschaftliche, wird in der Europäischen Kultur seit eh und je durch die drei christlichen oder katholischen Sozialprinzipien - Gemeinwohl, Solidarität und Subsidiarität geschützt.

Die Länder Europas existieren und funktionieren in ihrer eigenen Kultur, nach ihrer eigenen Logik - gegen Einmischung von außen, gegen politischen oder wirtschaftlichen Druck zum Beispiel, müssen sie sich um ihrer eigenen Funktionsfähigkeit willen wehren. Das heißt aber nicht, dass sie sich wie Schnecken in ihre Schneckenhäuser zurückziehen und Außenkontakte vorsichtshalber vermeiden können. Kein Land kann sich ausschließlich mit sich selbst beschäftigen. Immer geschieht außerhalb etwas, dem es sich nicht verschließen kann, weil es Auswirkungen auf die eigene Funktionsfähigkeit hat. Austausch ist notwendig und liegt im allgemeinen Interesse.

Diesen Austausch regelt das sozialethische Prinzip der Subsidiarität. Danach kann einerseits von außen nicht beliebig in die Selbständigkeit der Länder eingegriffen werden. Danach soll aber von außen solidarisch Hilfe geboten und ermöglicht werden, wenn diese das Land und damit auch Europa - sei es durch den Abbau von Schuldenbergen in Griechenland oder den Abbau von Müllbergen in Sizilien - in ihrer Funktion stützt. Das braucht Strukturen, die es möglich machen, belastende Zugriffe (oft durchaus rechtlich legitimierte) zu verhindern. Und es braucht Strukturen, die es erlauben, sensibel auf Notsituationen zu reagieren.

10. Gebot: Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen.

Israel braucht ein funktionierendes soziales Umfeld. Und ein privates Umfeld: Eine verlässliche Beziehung zwischen Mann und Frau ist Basis der Sippe, Grundlage der Freiheit. Im 10. Gebot geht es um diesen privaten oder intimen Raum. Er ist vor Zugriff, auch vor rechtlich möglichem Zugriff, zu schützen. Um der Freiheit der einzelnen beteiligten Personen Willen. Um der Freiheit des ganzen Volkes Willen.

Was heißt das heute - und für Europa? Hier geht es um die Private Lebengrundlage.

Im modernen Europa ist die Familie, bei aller larmoyanten Klage über ihr Nichtgenügen, immer noch der Ort, dem vor allem zugetraut wird, dass dort die private bzw. die intime Gemeinschaft funktioniert. In der Familie wird die intime Beziehung zwischen Menschen vertikal und horizontal gelebt. Mit der Familie wird gerechnet. Wird gerechnet, wenn es um die Betreuung der Kinder geht. Um die Pflege der Kranken. Und um die der Alten. Mit der Familie wird gerechnet, wenn es um die Wirtschaft geht. Wenn es um Bildung geht. Auch um die von der Pisa-Studie vernachlässigte Art von Bildung, die die Alten „Herzensbildung" nannten. Die, die mit Verstand und Gefühl, mit sich selbst und dem anderen umzugehen lehrt. Mit der Familie wird gerechnet, wenn es um die Weitergabe des Glaubens geht. Wenn es darum geht, etwas von der helfenden und heilenden Beziehung Gottes zu den Menschen zu erfahren. In den Familien soll man das Zusammenleben lernen. In seinen konkreten Formen. Da sollen Kinder ein eigener Mensch werden und gleichzeitig eine soziale Identität ausbilden. Was ja auch den pluralitätsfähigen Staatsbürger ausmacht. Europa rechnet mit der Familie! Zu Recht! Denn da wird ausgebildet, was Politik und Wirtschaft brauchen, das sie aber selber in ihren Systemen nicht herstellen können. Mit der Familie wird gerechnet. Einerseits.

Andererseits scheitern Familien in allen europäischen Ländern tausendfach. Oder: Sie werden erst gar nicht gegründet.

Europa hat ein demographisches Problem. Ab 2015, rechnen die Statistiken vor, wird in Europa insgesamt die Zahl der Sterbefälle die Zahl der Geburten übersteigen.

Nur wenige europäische Länder schauen einer bevölkerungspolitisch sorgenfreien Zukunft entgegen. An der Spitze dieser Länder steht unangefochten seit Jahren das katholische, bis im vorigen Jahr mit einem enormen Wirtschaftswachstum gesegnete, Irland mit 18 Geburten je 1000 Einwohner, gefolgt vom Nachbarland Großbritannien mit 12,9 Geburten. Beide Länder sind als Hochburgen des Wirtschaftsliberalismus auf eine hohe Eigeninitiative der Eltern eingestellt. Da hält sich der Staat familienpolitisch sehr zurück. Aber auch das laizistische Frankreich steht mit 12,8 Geburten je 1000 Einwohner gut da. Frankreich gilt, ebenso wie die nordischen Staaten, vor allem Schweden (mit 11,8 Geburten), als Paradies für Familien - oder wenigstens für Frauen, die Mütter sein wollen: Auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird größter Wert gelegt. Die Schwedinnen sind zu 82% auch mit Kindern unter sieben Jahren erwerbstätig, viele in Vollzeit. Die Männer nehmen dort zu 35% Elternurlaub in Anspruch. In den osteuropäischen Ländern wie Polen, Litauen oder Lettland steigt die Geburtenrate allmählich wieder an. Parallel zur wachsenden Einsicht, dass die wirtschaftliche Situation es verlangt, Familiengeld, Familienzeit und Betreuungsangebot westeuropäischen Standards anzugleichen. Die eigentlich als kinderfreundlich geltenden Südeuropäer haben demographische Sorgen: Italien bringt es nur auf 9,5 Geburten je 1000 Einwohner. In Griechenland sieht es ähnlich aus. Man leistet sich in Italien nicht allzu viel an Zuwendung für Familien - weder finanziell noch als Betreuungsangebot. Eine hohe Jugendarbeitslosigkeit und ein niedriges Einstiegsgehalt wirken zusätzlich nicht motivierend auf Männer und Frauen, Eltern zu werden. Eine besonders niedrige Geburtenziffer hat mit 8,3 Geburten je 1000 Einwohner im Jahr 2008 im europäischen Vergleich Deutschland aufzuweisen. Mit Abstand folgen Österreich (9,1) und die Schweiz (9,9). In der Schweiz wird das Bedürfnis, Kinder zu bekommen, eher als Privatangelegenheit gesehen. Österreich und Deutschland verteilen großzügiger als die meisten europäischen Länder monetäre Leistungen, großzügig ist man (oder war man bis zu den neuesten Einspaarüberlegungen) auch mit der Elternzeit, Betreuungsangebote für Kleinkinder werden massiv aufgebaut.

Die europäischen Staaten reagieren. Unterschiedlich. Mit sehr unterschiedlicher Wirkung, je nach Ziel. Je nachdem, ob es um die Familie als Ganze gilt. Um die Rolle der Familie, um deren Erhalt. Oder ob es um die einzelnen Funktionen der Familie geht, um deren Erhalt.

Zum einen stehen die einzelnen Funktionen der Familie im Mittelpunkt. Was ist zu tun, damit der Gesellschaft die Pflege und Erziehung der Kinder, die Pflege der Alten etc. erhalten bleiben, unter Umständen auch außerhalb der Familie? Zum anderen steht die Familie als Ganze im Mittelpunkt. Was ist zu tun, damit sie die Ressourcen - Zeit, Geld, Erziehungskompetenz, haushalterische Kompetenz - erhält und behält, die sie braucht, um die Funktion der Komplettberücksichtigung der Person zu garantieren?

Zum einen: Was ehemals Sache der Familie war, wird, wo die Familie nicht funktioniert, ausgelagert aus der Familie: Da geht man davon aus, dass es besser für die Großmutter sei, sie im Seniorenstift St. Anna der professionellen Pflege anzuvertrauen als zuhause der gestressten Schwiegertochter. Da ist man sicher, dass Kinder besser tagsüber der professionellen Erziehung in der „Arche Noah" anvertraut werden als zuhause Eltern, denen die Doppelbelastung sowieso über den Kopf wächst.

Zum anderen: Was Sache der Familie war, bleibt Sache der Familie. Man setzt auf Strategien, die die Leistungsfähigkeit von Familien stärken. Und hält daran fest, dass die Familie der Ort ist, an dem es am ehesten gelingt, Kinder und Eltern, die jungen und die alten, in ihren gesamten Bedürfnissen zu berücksichtigen - aus Liebe.

Man muss schon wissen, was man für Europa will: Die Stärkung der Ressourcen der Familie und so die Stärkung des Funktionssystems Familie? Oder die Auslagerung von Teilfunktionen in andere Systeme und im Zuge der Verbesserung der Funktion die Schwächung oder auch schrittweise Auflösung des Funktionssystems Familie?

Im Sinn des 10. Gebotes wäre die Entscheidung eindeutig: Nicht das, was die Funktionen aus der Familie herausnimmt und die Institution damit aushöhlt, stützt und fördert die private Gemeinschaft, sondern das, was die Familie in ihrer Funktion stärkt.

(Ehe) und Familie in Europa zu schützen und zu fördern - das heißt, sie personell und strukturell, materiell und ideell, durch Prävention und Intervention als Funktionssystem zu stützen.

10 Gebote für Europa.
Gebote, die zu denken und zu tun geben. Die keine Lösungen angeben. Sondern Wege. Europa kommt immer wieder ab vom Weg. Immer wieder wird es nötig, die Identität Europas neu zu übersetzen und umzusetzen. An der Übereinstimung von kommunizierter und gelebter Identität, von Vision und Realität zu arbeiten. Immer wieder gilt es, hemmende Strukturen zu verändern, neue Wege zu suchen.

Kirchliche Verbände und Katholische Verbindungen haben da eine Aufgabe. Eine anspruchsvolle Aufgabe. Aber der Gott Israels, der im Dekalog anspruchsvolle Anweisungen gibt auf dem Weg zur Freiheit, gibt auch Weisung für den Fall des Abweichens vom Weg. Er lädt auch ein, wegzukommen von der chronischen Fixierung auf das Vollendete, mit der man sich ständig selber als defizitär etikettiert. In der christlich jüdischen Botschaft hat auch das noch nicht ganz Gelungene, das nicht ganz Erreichte, das nicht End-gültige seinen Charme. Denn: Die Vollendung Europas ist Sache Gottes. Er steht für das Ganze, nicht der Mensch.

Literaturempfehlung:
ZEHN GEBOTE FÜR EUROPA. DER DEKALOG UND DIE EUROPÄISCHE WERTEGEMEINSCHAFT, herausgegeben von Elisabeth Jünemann und Heinz Theisen, Altius Verlag, Erkelenz 2009