Herbst 2008: Exkursion in die Normandie - Entre terre et ciel

Anfang September 2008 besuchte unser Ortszirkel «Drei Hasen»  die Normandie.

Inneres Ziel war die Begegnung mit dem Geist der gotischen Kathedralen in Reims, Chartre, Caen, Bayeux, Mont St. Michel, Rouen und Amiens.

Chartre

Mit Überschreiten der französischen Grenze öffneten sich die weiten Kreidekalkebenen hin zu ihrem Zentrum, der Île-de-France. Wie Landmarken, gewissermaßen Fingerzeige Gottes, erhoben sich die machtvollen Kathedralen als Vertikale aus den weiten, nur leicht gewellten Horizontalen der Feldfluren.

Erste Begegnung mit den Gotteshäusern!

Erwachsen aus den strengen, erdgebundenen Formen der Romanik in ihrer Statik und schweren blockhaften Gliederung entwickeln sich die frühgotischen Kathedralen  Caen, St.Etienne gemäß dem Geist der Scholastik (vgl. Hugo von St. Viktor):

Steingewordener Logos, ordo, Kosmos als Abbild der vernunftbegabten, begnadeten Schöpfung. So erschlossen sich der Reisegruppe die tieferen geistig-geistlichen Dimensionen der Bauwerke.

Im Verlauf des 13. Jahrhunderts entwuchsen den noch gehaltenen Formelementen gemäß dem Geist der Mystik neue Architekturformen etwa mit die Fronten überschneidenden filigranen Wimpergen und feinziselierter Bauplastik bis hin zum Flamboyantbogen im Übergang hin zur Renaissance, Elemente, die den Stein gewissermaßen auflösten und jeglicher Schwere enthoben. Der weiche, hellgelbe Kreidekalk der Normandie bot dem Steinmetz den dafür idealen Werkstoff. Die Wandflächen reduzierten sich auf schmale Säulen‚ Grate und Maßwerk, wobei das Glas nicht mehr Element innerhalb des Steins war, vielmehr  Caen das Glas den Stein dominierte und vollends hervortrat als Wunder seiner selbst, als lumen luminis. “Per visibilia ad invisibilia“: so wurde der Betrachter zum Schauenden ewigen Lichtes.

Der Umbruch von der Strenge und gewissen Gottesferne der Romanik hin zur personalen Gottesbegegnung im Sinne der Mystik wurde auch lebendig im Vergleich zwischen dem hoheitsvollen Christkönig hin zum leidenden Christus bzw. der statisch frontalen Unnahbarkeit der thronenden Gottesmutter mit ihrem Sohn hin zum personalen, innigen Lächeln von Mutter und Kind. Gott als Leidender begegnete auch in der erschütternden Darstellung des Schmerzensmannes, in der sich Christus gänzlich entäußert in Vollendung seines Erlösungswerkes.

Mit der Renaissance versiegt dieser tiefe Glaubensvollzug, und es entfaltet sich Raum für irdisches Maß, wie es deutlich wurde im Uhrenturm von Rouen bzw. seinem illustren Justizpalast, das sakrale Formelemente säkularisiert.

Der Begegnung mit dem gotischen Himmel der Kathedralen stand die Begegnung mit den Soldatenfriedhöfen des 2. Weltkriegs gegenüber. Die Gräber von la Cambe bewegten und erschütterten als Dokument unfassbaren Leids - erwachsen aus Vorurteil, Hass und totalitärem Machtstreben, dem die Menschen zum Opfer fielen.

Ich möchte hier ein Wort von Saint-Exypery zitieren, das im Dokumentationsraum in La Cambe zu lesen ist: “Der Krieg ist eine Krankheit wie Typhus“. So drängte sich die bange Frage der Theodizee auf.

Wie anders das Erleben der gotischen Dome in ihrer Heilsgewissheit und Gottesnähe!

Entre terre et ciel. - Sinnsuche im Mittelalter wie auch heute!

Was kann die Bipolarität menschlicher Existenz tiefer bezeugen als die Erfahrungen dieser Fahrt in die Normandie - eine Fahrt in bester Tradition des KV.

Diese Dimensionen bewusst gemacht und verdeutlicht zu haben, verdankten die Zirkelmitglieder der ausgezeichneten Führung von Prof. Dr. Reinhard Sprenger. Wer tiefer in diese existentielle Welt eindringen möchte, dem sei das jüngst erschienene, von Dr. Sprenger verfasste Buch: „Schöpfung und Mensch im Mittelalter“ empfohlen (Bernardus-Verlag, 2007).

(Text und Zeichnungen von Eckart Hachmann)