Vorderhand gilt es zu klären, warum vor 125 Jahren in Paderborn ein Ortszirkel entstand, welche treibenden Kräfte dahinter steckten und welche Intention mit der Gründung verbunden sein mochte.

Wenn man einen Blick auf die Geschichte der Stadt an der Pader vor 125 Jahren wirft, so fällt eine Aufbruchstimmung unter den dort ansässigen Katholiken auf. Erst seit drei Jahren stand wieder offiziell ein Bischof an der Spitze der Diözese. Er hieß Franz Kaspar Drobe, war zwar hochbetagt, gehbehindert und hatte sich nur nach einem unmissverständlichen Wink des damaligen Papstes Leo XIII. bereit erklärt, das Amt zu übernehmen. Doch begann er zielstrebig mit dem Neuaufbau des kirchlichen Lebens und der innerkirchlichen Einrichtungen. Besonders verdient machte er sich übrigens auch um die Eingliederung der polnischsprachigen Katholiken, in den Teilen des Ruhrgebiets, die zu seinem Sprengel zählten und wo es zu erkennbaren sozialen Umbrüchen kam. Eine erfolgreiche Integration, an die heute ruhig erinnert werden sollte, in einer Zeit, wo das Wort in aller Munde ist.

Drobes Vorgänger im Bischofsamt Konrad Martin, zu dessen Vertrauten der neue Oberhirte zählte, war ein Opfer des Kulturkampfs geworden. Er hatte „mit der ihm eigenen großen Impulsivität für die Rechte und Freiheiten der Kirche“ gefochten, so zutreffend das Biographisch-Bibliographische Kirchenlexikon. Die Folgen hießen Absetzung, Inhaftierung und schließlich Exil in Belgien, wo er 1879 starb. Das Bistum blieb dadurch sieben lange Jahre seiner geistlichen Führung beraubt und finanziell einem preußischen Staatskommissar unterstellt. Die Seelsorge in der nach Breslau zweitgrößten Diözese Deutschlands mit einer typischen Diasporasituation nahm Schaden. Besonders hart traf die Katholiken, die Schließung ihrer Bildungseinrichtungen, einschließlich des Priesterseminars. Das Bistum machte eine schreckliche, lähmende Zeit durch, die 1891/92 endlich zu Ende ging. Vor diesem Hintergrund muss man die Entstehung des Ortszirkels sehen. Es ist auch kein bloßer Zufall, dass sich 1884 schon der CV zusammen gefunden hatte und 1885 in Paderborn der „Bonifatius-Sammelverein“ entstand, der nach eigenem Bekunden „die wiedererlangten Freiheiten zur Intensivierung vielfältiger Vereinstätigkeiten nutzte“. Das kann man ebenfalls vom KV-Ortszirkel sagen: Nach einer Zeit der Stagnation fanden sich Mitglieder des Kartellverbandes katholischer deutscher Studentenvereine in Paderborn zusammen gemäß dem unausgesprochenen Leitsatz „Ex unitate vires“ („Einigkeit macht stark“)! Er drückt die Überzeugung aus, in Gemeinschaft stärker zu sein und dass die Gemeinschaft nur stark sein wird, wenn jeder sich für sie engagiert.

Mit der Gründung wurde der KV-Zirkel zugleich ein Bestandteil dessen, was die moderne Geschichtswissenschaft katholisches Milieu nennt: Es steht für das dichte soziale Geflecht, das die Katholiken trug, von der Wiege bis zur Bahre.

Die Stadt Paderborn zählte 1885 einschließlich der Garnison knapp 17.000 Einwohner. Für damalige Verhältnisse galt sie als Mittelstadt. Sie lag günstig an der seit 1850 entstandenen Eisenbahnstrecke Hamm-Warburg. Dennoch hielt sich die Industrieansiedlung mit Buchdruck, Glas-, Seifen- und Tabakfabrikation in Grenzen. Wichtiger war der Handel mit Vieh, Getreide und Wolle, der auf die zentrale Funktion der Stadt für das ländliche Umland hinweist. Von hoher Bedeutung und Vorteil für Paderborn war der Dienstleistungssektor insbesondere der Verwaltungsbereich mit Kreisverwaltung, Gericht, Oberförsterei, Gymnasium, Lehrerinnenseminar u.a.m. Überregionales Gewicht kam Paderborn als Sitz des schon erwähnten Bistums zu, das die preußischen Regierungsbezirke Minden und Arnsberg, die preußische Provinz Sachsen, Anhalt, thüringische Herzogtümer, Lippe und Waldeck umfasste.

In einer solchen Stadt konnten sich nicht allzu viele KVer ansiedeln, zumal der Verband auch noch nicht lange bestand und das Stellenangebot sich in Grenzen hielt. Wer nach hier kam, der fand vornehmlich eine Anstellung im dritten Sektor, in der Verwaltung, der Justiz, der Schule, der Kirche etc. oder ließ sich als Freiberufler nieder.

Sieht man sich die Liste der potenziellen Mitglieder des Paderborner Zirkels vor 125 Jahren an, so bestätigt sich diese Vermutung. Unter den 22 Genannten nehmen die Juristen mit fast einem Drittel die Spitzenstellung ein. Aber lassen wir uns davon nicht täuschen. Die meisten von ihnen verbrachten in Paderborn nur eine kurze Zeit der Ausbildung am Landgericht. Nur einige wenige wie etwa der Rechtsanwalt und Notar Paul Everken blieben und wurden damit zu Mitgliedern auf Dauer.

Ähnlich wie bei den Juristen verhält es sich bei den Gymnasiallehrern, die 1885 knapp ein Viertel der in Paderborn lebenden KVer ausmachen. Unter ihnen lassen sich Dr. August Enck und Wilhelm Kotthoff als „bleibende“ Paderborner nachweisen. Sie waren beide Mitglieder der Germania in Münster und kannten sich aus dem Studium. Zu diesen, nennen wir sie einmal „Dauer-Paderbornern“, sollten wir außerdem den Bischöfliche Kaplan Ferdinand Altstädt rechnen. Er stammte aus Herdringen bei Arnsberg, und gehörte zu den Sauerländern, die hier eine Heimat gefunden hatten. Während seines Theologiestudiums in Bonn fand er 1866 als 26. Mitglied Anschluss an die drei Jahre zuvor gegründete „Arminia“, ist folglich dort so etwas wie ein Urmitglied gewesen. Später übernahm er das Amt des Paderborner Dompredigers und wurde Domkapitular.

Hinweise, dass die Initiative zum Entstehen des Ortszirkels von ihm ausgehen könnte, gibt es nicht. Das wäre sehr schön gewesen, scheint aber eher unwahrscheinlich. Vermutlich hätte er sich als enger Vertrauter Bischof Drobes gescheut, allzu sehr in die Öffentlichkeit zu treten. Seine Aufgabe bestand darin, sich im Hintergrund zu halten. Aber soviel lässt sich sagen: Er ist das erste wichtige Bindeglied zur Paderborner Kirche, aus deren Reihen viele KVer hervorgegangen sind, darunter wohl als der bedeutendste der spätere Erzbischof Lorenz Kardinal Jäger.

Während seines Studiums in Paderborn wurde er Mitglied der „Teutoburg“, zu der er zeit seines Lebens ein herzliches Verhältnis pflegte. Aber auch den Gesamtverband förderte er nachhaltig und trug vorsichtig die Reformen in den 70-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit. Er zeigte verhaltenes Verständnis dafür, dass sich der Verband entschloss, im Ausnahmefall auch nichtkatholische Christen in seine Reihen aufzunehmen. Das passt in das von ihm überlieferte Bild eines Förderers des Gesprächs unter den christlichen Bekenntnissen. Nicht von ungefähr gründete er 1957 das Johann-Adam-Möhler-Institut für Konfessions- und Diasporakunde in Paderborn, wurde Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz in ökumenischen Fragen und wirkte am Ökumenismus-Dekret des Zweiten Vatikanischen Konzils mit. Ihm gebührt heute noch Dank für richtungweisende Worte an die KVer.

Mit ihm eng verbunden war der KVer Paul Benkart, der Generalsekretär der Bonifatius-Einigung hier in Paderborn, der inzwischen im KV zu Unrecht fast vergessen ist. Immerhin ist seiner im Biographischen Lexikon des KV gedacht neben neun anderen mit Paderborn verbundenen Persönlichkeiten, darunter der Bischof Kaspar Klein und der Weihbischof Augustinus Baumann.

Auch einer der Widerstandkämpfer in der bleiernen nationalsozialistischen Zeit war hier geboren worden: der zum Justizminister vorgesehene Joseph Wirmer, einer der 13 Blutzeugen des Verbands.

Soeben mussten wir konstatieren, dass Altstädt wahrscheinlich als Initiator der Paderborner Gründung ausfällt.

Wer könnte es sonst gewesen sein?

Um es vorwegzunehmen, wir wissen es nicht und tappen im Dunkeln wie ein Maulwurf, der aber auch nicht gänzlich blind ist. Annehmen darf man etwa, dass der Gymnasiallehrer Dr. August Enck eine wichtige Rolle bei der Gründung gespielt hat, nahm er doch den Posten des ersten Vorsitzenden an. Über seine KV-Karriere ließ sich dieses herausfinden. 1871 wurde er bei Germania in Münster aktiv, stammte aus Essen, war also ein aus der Rheinprovinz Zugereister und lebte seit mindestens 1883 in Paderborn.

Über seinen Stellvertreter Hermann Schlüter, der ebenfalls zu den Gründungsvätern gerechnet werden muss, konnte Folgendes zu Tage gefördert werden. Er war in Paderborn beheimatet und kannte somit Land und Leute. Als Student der Medizin wurde er 1878 bei Unitas in Breslau aktiv. Kurz darauf verließ er Schlesien und tauchte drei Jahre später, jetzt als Kandidat der Medizin, in Göttingen auf, wo er sich der Winfridia anschloss. Nach seinem Examen kam er nach Paderborn zurück, um hier als Arzt seiner Wehrpflicht zu genügen. Zu dieser Zeit entstand der Zirkel. Ein Jahr später ist er in Marburg als Assistenzarzt an der Klinik für innere Medizin nachzuweisen. Dort trat er der Thuringia bei. Seine erste Praxis eröffnete er 1887 in Rüthen/Kr. Soest, und spätestens ab 1892 praktizierte er Paderborn.

Schlüter nahm, wie wir gesehen haben, schon vor seinem endgültigen Berufsabschluss ein Amt im Zirkel an. Damit verhielt er sich vorbildlich, so wie es von den KVern erwartet wurde. Er hätte sich vielleicht mit dem Argument versagen können, er bleibe doch nur für eine kurze Zeit in Paderborn. Aber so etwas widersprach der Überzeugung der damaligen KVer, die von ihrer Sache überzeugt waren und ein Netz gegenseitiger Förderung aufzubauen begannen, in einer Zeit, in der katholische Akademiker in der Öffentlichkeit eine schweren Stand hatten.

Ein Weiteres müssen wir noch festhalten, was heute überrascht: Alle die sich an der Gründung in Paderborn beteiligten, waren noch sehr jung. Enck hatte gerade die 30er-Schwelle überschritten, und Schlüter zählte 24 oder 25 Lenze. Ja, das Durchschnittsalter der Gründer lag um die 30. Fazit: Die Urväter des Zirkels waren miteinander jung und damit voller Tatendrang. Außerdem nahmen sie eine Vorreiterrolle wahr: Denn das, was sie aus der Taufe hoben, hatte so gut wie keine Vorbilder. Als der Zirkel entstand gab es wahrscheinlich noch keine zehn davon. Somit kann Paderborn sich heute als Pionier unter den etwa 200 KV-Ortszirkeln, die später entstanden sind, feiern lassen.

Was die jungen Männer dazu getrieben haben mag, ein regelmäßige Versammlung zu arrangieren, können wir andeutungsweise nur so beantworten: Sie wollten sich offensichtlich mit Gleichgesinnten treffen, die frisch von der Universität kamen. Sie saßen nach der Gründung in einem Gasthaus miteinander zusammen, um einige frohe Stunden wie noch kurz zuvor in den Universitätsstädten zu verbringen und zu plaudern. Sie spannten einmal aus, vergaßen den Alltag und gedachten bei einigen Glas Bier der Tempi passati.

Diese italienische Sentenz soll Kaiser Joseph. II. im Dogenpalast zu Venedig in einer Mischung von Erleichterung und Bedauern ausgesprochen haben beim Anblick eines Gemäldes, das Barbarossa zu Füßen des Papstes Hadrian IV. zeigte. Übertragen auf die Situation in Paderborn bedeutet das Gedenken an vergangene Zeiten zuvörderst Bedauern oder Wehmut, das Studentenleben hinter sich gelassen zu haben, aber auch ein wenig Erleichterung und Zufriedenheit über die bestandenen Examen.

Zugegeben: So betrachtet, klingt das alles nicht sehr idealistisch, scheint aber umso realistischer. Denn wenn wir uns die Berichte über die Zusammenkünfte in den „Akademischen Monatsblättern“ aller Ortszirkel in der Frühzeit ansehen, müssen wir einfach zu diesem Schluss kommen. Die Ortszirkel bildeten zunächst einmal frohgemute Stammtische. Sie veranstalteten ferner Ferienkommerse, auf die ich noch zurückkommen werde. Sie boten außerdem Tanzabende, gemeinschaftliche Essen und Ausflüge an. All dies lief unter der Rubrik Geselligkeit. So hieß zunächst eine neben Religion, Wissenschaft für den Verband verbindliche Leitlinie. Erst seit wenigen Jahren vor der Entstehung des Paderborner Zirkels war in der Revision der KV-Satzung im Jahr 1880 das sogenannte dritte Prinzip in Freundschaft umbenannt und als Lebensfreundschaft interpretiert worden.

Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass die drei KV-Leitlinien eng miteinander verknüpft sind. Ich muss das hier nicht ausführlich begründen. Nur soviel: In den Ortszirkeln bestritt damals niemand,

  • dass man sich zur katholischen Kirche zu bekennen,
  • am kirchlichen Leben teilzunehmen
  • und sich nach den Geboten der Kirche zu richten hatte.

Damit genügte man damals dem Religionsprinzip. Schwieriger gestalte sich die Verwirklichung des Wissenschaftsprinzips an Ort und Stelle. Hier kam der Durchbruch erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Seitdem gibt es bei vielen Ortszirkeln wie auch vorbildlich in Paderborn Jahresprogramme, in denen wissenschaftliche Vorträge ein wichtiger Bestandteil geworden sind. Der besondere Reiz liegt darin, dass die Kartellbrüder in der Regel die Vortragenden sind und vielfach Themen aus ihren Fachgebieten behandeln. Somit sind manche Ortszirkel so etwas wie ein wissenschaftlicher Verein im Kleinen geworden.

Kommen wir noch einmal auf die Paderborner Anfänge zurück:

Wie bereits gesagt, wissen wir darüber nicht viel und der Nebel, der sich darüber ausbreitet, lichtet sich auch später nur zögerlich. Der erste Anhaltspunkt über die Gründung liefert das damalige sehr bescheidende Verbandsorgan, die Korrespondenzblätter. Nach der Schaffung der anspruchsvolleren „Akademischen Monatsblättern“ im Jahr 1888 taucht Paderborn ein Jahr später auf. Aus der dortigen Erwähnung muss man schließen, dass der Paderborner KV 1886 zum ersten Mal mit einem Ferienkommers an die Öffentlichkeit trat. Solche Kommerse dienten ganz im Sinne des Verbandes der Werbung neuer Mitglieder. Das war damals ein Erfolgsrezept und ist bis in die 60-er Jahre des 20. Jahrhunderts noch praktiziert worden. Heute gehört es wie so vieles anderes Liebgegewonnenes der Vergangenheit an.

Sie hießen übrigens Ferienkommers, weil sie in die Zeit fielen, zu der die dem KV angehörigen Studenten während der Semesterferien zu Haus weilten.

Dass so vieles oder fast alles bei der Entstehung des Zirkels in Paderborn vor 125 Jahren als vage erscheint, darf nicht verwundern: Eine zuverlässige Überlieferung gibt es nicht, und da macht Paderborn keine Ausnahme. Auch von den ältesten, in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden Ortszirkeln des Verbandes, fehlen alle Dokumente, auf die man zurückgreifen könnte. Bei ihnen bleiben ebenfalls die genauen Umstände der Entstehung fast wie im Mittelalter im Dunkeln.

Hermann Cardauns, der herausragende Geschichtsschreiber unseres Kartellverbands, hat 1913 als Mitgründer des Kölner Philisterzirkels das Geständnis abgelegt, dass er sich an nichts mehr erinnern könne. Er spricht in diesem Zusammenhang von einem „spontanen und statutenlosen“ Entstehen dieses Zusammenschlusses. Außerdem fiel ihm dazu noch ein, dass die „ganz zwanglose Vereinigung“ über Jahrzehnte treu zusammengehalten habe. Im Blick auf die Jubiläumsfeier zum 25-jährigen Bestehen, 1902, berichtete er lediglich über eine Rede des damals bekannten Zentrumspolitikers Karl Trimborn, eines anderer Mitgründers. Über seine Worte habe man „Tränen gelacht“, „obwohl oder auch weil“, so fährt Cardauns fort, “schwer zu sagen ist, was er eigentlich gesagt hat“. Cardauns, der habilitierte Historiker und anerkannte Chefredakteur der „Kölnischen Volkszeitung“, inzwischen ein Mann von 55 Jahren, geht somit elegant über seine Gedächtnislücken hinweg, als er über die Anfänge des Kölner Zirkels schreibt und läuft damit nicht Gefahr, der Sache einen tieferen Grund zu geben, als ihr zukommt.

So viel kann man heute auf jeden Fall sicher diagnostizieren: Erst ab Ende der 70er-/Anfang der 80er-Jahre des 19. Jahrhunderts beginnt die Gründungsphase unserer Ortszirkel im KV. Warum das so ist, hängt damit zusammen, dass die Zahl der Mitglieder des Verbandes, die ins Philisterium traten, zunahm und diese neben den Kontakten zu ihren Korporationen, die zunächst sehr locker blieben, in den Orten, wo sie sich beruflich niederließen, Geistesverwandte suchten. Die fanden sie vornehmlich unter den KVern, von denen sie den einen oder anderen schon aus dem Studium kannten. Hier nahm der KV Gestalt an. Der Zirkel wurde so zum „Ersatz für das Vereinsleben“ an der Universität, wie es einmal in einem Bericht der Paderborner wörtlich ausgedrückt wird. Ähnlich heißt es an einer anderen Stelle: Man erachte den „engen Anschluss“ an die „Verbandsphilister“ als notwendig. Da die Korporationen nur sehr zögerlich Altherrenvereine ins Leben riefen und die ins Philisterium verabschiedeten Bundesbrüder von ihren Studentenvereinen nur noch sporadisch erfuhren, wurden für sie die Zirkel umso wichtiger.

So locker wie diese Vereinigungen gebildet waren, so schnell konnten sie wieder zerfallen. So geschah es auch in Paderborn. Vor 1888 muss der Zirkel wieder eingegangen sein, sodass ein zeitgenössischer Hinweis in den „Akademischen Monatsblättern“ überrascht. Dort erfahren wir, dass „zu den Haupteigenschaften der Westfalen“ die Vorsicht gehöre, mit welcher er Neuerungen erst einmal fernbleibe, aber auch „die Zähigkeit mit der er“ an ihnen festhalte, „wenn er sie einmal für gut und nützlich erkannt“ habe. Da stießen sich Wunsch und Wirklichkeit hart im Raume.

Über die Neugründung in Paderborn 1890 sind wir besser unterrichtet als über die Anfänge fünf Jahr zuvor. Jetzt wird der Initiator ausdrücklich genannt. Er heißt Dr. August Rieke und praktiziert als Augenarzt in Paderborn. Er kann auf ein bewegtes Studentenleben zurückblicken, gehört er doch der Walhalla in Würzburg, der Normannia in Greifswald, der Brisgovia in Freiburg und der Thuringia in Marburg an.

Wie nicht anders zu erwarten, setzte er sich mit Tatkraft für den Zirkel ein, den er 15 Jahre lang bis 1905 steuerte, und hielt „schwungvolle Reden“, was eigens mitgeteilt wird. Es ist ja bis heute bei vielen Vereinen nicht selten, dass man ein gut geführtes Amt nicht mehr los wird. Da machte und macht der KV keine Ausnahme.

Einen anderen Unterschied gegenüber der Erstgründung von 1885 gilt es noch festzuhalten: Man traf sich nach der Wiederbegründung jetzt sogar zweimal im Monat zu geselligen Abenden. Besonderer Beliebtheit erfreuten sich dabei die Kneipen, die gut besucht wurden. 1890 wird von über 60 Teilnehmern gesprochen. Diese hohe Zahl kam dadurch zu Stande, weil KVer aus der Nachbarschaft angereist waren und die dem KV angehörenden Priesteramtsanwärter aus dem Seminar erscheinen durften.

Worüber auf den Stammtischen gesprochen worden ist, wissen wir nicht im Detail. Aber immerhin erfahren wir einmal, dass der Zirkel sich 1902 gegen eine Reduzierung der Ausgaben der „Akademischen Monatsblätter“ ausgesprochen hat. Man wird folglich über den Verband und seine Intentionen diskutiert haben. Die hier verlangte Einschränkung der Erscheinungshäufigkeit unseres Verbandsorgans ist im KV so etwas wie ein Wiedergänger, ein fliegender Holländer. Zum letzten Mal erschien er auf der Vertreterversammlung in Würzburg vor zwei Jahren. Festzuhalten bleibt, dass in Paderborn über den KV debattiert und eine Tradition begründet worden ist, die bis heute andauert.

Nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nahm der Zirkel eine weitere Etappe auf dem Weg hin zu einem Familienkreis. 1901 „fanden sich die Alten Herren mit ihren Damen… am Bahnhofe ein und dampften ins schöne Eggegebirge nach Driburg“, lesen wir in einem Bericht. Wie stark von studentischen Bräuchen selbst dieser Ausflug geprägt blieb, zeigt die Tatsache, dass „ein kleiner Damenkommers in der reizend am Fuße des Rosenbergs im Grünen liegenden Topfhütte die Teilnehmer in froher Tafelrunde“, vereinigte, so wörtlich. Ferner hören wir von einem „fröhlichen Tänzchen“ am Schluss „des genussreichen Tages“. Hinter diesem Bericht wird die Tendenz des Zirkels erkennbar, die Familien in das Geschehen mit einzubeziehen. Die gebotene Lebensfreundschaft unter den KVern ließ es gar nicht zu, den Kreis nicht um die engen Angehörigen, die Ehefrauen, Söhne und Töchter zu ergänzen. Dadurch wurden die Ortszirkel ab Beginn des vergangenen Jahrhunderts immer stärker geprägt. Hiermit übernahmen sie eine Vorläuferfunktion, die ab den 70-er Jahren des 20. Jahrhunderts zu einer Selbstverständlichkeit im Verband wurde.

Mit dem Tanzen hatte es im KV seine besondere Bewandtnis. Heute will man es kaum noch glauben: Im letzen Drittel des 19. Jahrhunderts bewegte die sogenannte „Tanzkränzchenfrage“ die Gemüter. An der Diskussion, ob die Korporationen so etwas Fragwürdiges einrichten durften, haben sich bedeutende Theologen und Politiker aus dem Verband beteiligt. Der weise Herrmann Cardauns hatte aber schon eingesehen, dass Damen dazugehörten und nebenbei bemerkt, dass die Zirkel zusätzlich für „die Zukunft der heiratsfähigen Töchter“ gesorgt haben. In einer Festschrift las ich in diesem Zusammenhang vom Heiratsmarkt. Das klingt wenig galant, gibt aber den Tatbestand wieder.

Wenn der Altherrenbundsvorstand die Ortszirkel als starke Säulen des Verbandes bezeichnet, so kürzlich geschehen in den „Akademischen Monatsblättern“, dann sollten sie jetzt wie schon immer ihre Stimme erheben, da im KV wieder einmal das, was man mit Kartellmüdigkeit milde umschreibt, um sich greift. Für einen Antrag, wie er kürzlich dem Aktiventag vorlag, den Ortszirkeln das Stimmrecht auf den Vertreterversammlungen zu nehmen, wird sich zwar keine Mehrheit finden, scheint mir aber symptomatisch dafür, dass ihre Existenzberechtigung und die Bedeutung für den Verband bei den Aktiven teilweise in Vergessenheit geraten ist. Zur Gründungszeiten bestritt die Wichtigkeit der Ortszirkel niemand, weil die Aktiven während der Ferien an seinem Leben munter teilnahmen und mit ihnen eng verbunden blieben. Vielfach hatten sie ja den Zugang zu den Korporationen über sie gefunden.

Heute müssen wir zugeben, die Absicht der Reformer in den 70-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, aus den Altherren- oder Philisterzirkeln Ortszirkel aus Alten Herren und Aktiven zu machen, hat sich als schwierig erwiesen. Ausnahmen machen einige Städte, in denen Korporationen ansässig sind, oder Zirkel, die einmal im Jahr die Aktiven zu einem Essen oder Ähnlichem einladen. Das ist ein richtiger Ansatz.

Hier in Paderborn bietet sich die enge Kooperation des Zirkels mit der Ostmark geradezu an und wird auch gepflegt. Wieder einmal ein Pluspunkt.

Blicken wir in die nahe Zukunft, so wird deutlich, dass durch die gegenwärtige Reform der Hochschulen der Anteil der Studierenden noch zunehmen, die gar nicht erst an eine andere Universitätsstadt wechseln und zu Hause bleiben oder zur nächstgelegenen Hochschule pendeln unter Nutzung des „Hotels Mama“. Hier muss uns etwas einfallen, um sie vom nützlichen Netz der Korporationen und ihrer christlich begründeten Botschaft zu überzeugen. Da mögen die Zirkel als anschauliches Beispiel dienen und eine neue Aufgabe bekommen. Sie könnten beispielsweise bei dem enormen Potential an Berufs- und Lebenserfahrungen, die sich in ihren Reihen angesammelt hat, davon Studenten profitieren lassen und damit gleichzeitig für den KV werben. Da bieten sich etwa

  • Vorträge bei unseren Korporationen an,
  • Berufsgespräche in Zusammenarbeit mit Schulen oder anderen Vereinigungen,
  • die Vermittlung von Praktika,
  • die Öffnung der Vortragsveranstaltungen für angehende Studenten und andere Interessenten,
  • Einführungsseminare zur Vermittlung von Grundfähigkeiten für das wissenschaftliche Arbeiten, wie wir es in den USA kennen,
  • und schließlich die Aufnahme von Gleichgesinnten in die Zirkel, die dem KV ferngeblieben sind.

In weiser Voraussicht hat unsere Satzung schon vor mehr als 50 Jahren den Status des Verbandsfreundes eingeführt. Viel zu wenig Ortszirkel machen von dieser Möglichkeit Gebrauch. Aus eigenem Erleben weiß ich, dass mancher Korporationsfreund ein überzeugter KVer geworden ist.

Halten wir die wichtigsten Ergebnisse unserer Spurensuche in sechs Punkten fest:

  1. Der Ortszirkel Paderborn ist spontan entstanden, wie es vor 125 Jahren so üblich war.
  2. Er gehört zu den Pionieren dieser Zusammenschlüsse im Kartellverband katholischer deutscher Studentenvereine.
  3. Als Gründer entdeckten wir ganz junge Leute, die gerade von der Universität kamen und etwas von der dortigen Fröhlichkeit in die Städte, wo sie ihrem Beruf nachgingen oder wo sie zur Ausbildung waren, hinüberretten wollten.
  4. Ganz von selbst entwickelte sich in den Zirkeln ein soziales Geflecht von Gleichgesinnten.
  5. Schon früh wurden die Damen in das Geschehen mit einbezogen.
  6. Dadurch entwickelten sich die Zirkel zu Familienkreisen, womit sie im Verband so etwas wie eine Vorreiterrolle übernahmen.

Heute sind sie starke Säulen des Verbands und können wieder einmal Pioniere werden, indem sie etwas von ihren Berufs- und Lebenserfahrungen an Jüngere weitergeben und Geistesverwandte, die während des Studiums keine Gelegenheit fanden, einer KV-Korporation beizutreten, in ihre Reihen aufnehmen.

Die Chancen für eine glückliche Fortsetzung der Erfolgsgeschichte sind gegeben. Wir müssen die Möglichkeiten nur noch in die Tat umsetzen.

Natürlich ist die Zukunft in ebensolchen Nebel gehüllt wie die Anfänge des Zirkels. Doch sollten wir, wie es Antoine de Saint-Exupéry formuliert hat, „die Zukunft nicht voraussehen wollen, sondern möglich machen“.