Stirbt die rund 1.900 Jahre alte syrische Christenheit aus? Das könnte eine Folge des verheerenden jüngsten Erdbebens in Syrien und der Türkei sein. Warum diese Gefahr droht und warum das direkt mit den Sanktionen des Westens zu tun hat, erklärt Pfarrer Peter Fuchs, Geschäftsführer der internationalen christlichen Hilfsorganisation Christian Solidarity International Deutschland (CSI Deutschland), im Gespräch mit Sebastian Sigler.

Herr Pfarrer Fuchs, Anfang Februar hat sich in Syrien und der Türkei ein schweres Erdbeben ereignet. Die Folgen sind dramatisch, die Probleme ungelöst. Welche wiegen am schwersten?
Das apokalyptische Erdbeben vom 6. Februar hat die Türkei und Syrien mit brutaler Wucht getroffen. CSI ist in Syrien aktiv und mit dem Land seit vielen Jahren vertraut. Jetzt haben über sechstausend  Syrer ihr Leben verloren. In der Millionenstadt Aleppo, einem Zentrum der syrischen Christenheit, sind unzählige Häuser in sich zusammengebrochen. Einsturzgefährdete Wohnblocks wurden evakuiert. Die UN gehen derzeit von fünf Millionen Obdachlosen in Syrien aus. Die Verletzten stellen ein unüberschaubares Heer dar, dessen Zahl niemand genau benennen kann.

Welche Rolle spielen die Sanktionen gegen Syrien?
Aufgrund der Sanktionen von EU und den NATO-Staaten sind Banküberweisungen nach Syrien und von Syrien unmöglich. In Deutschland lebende Syrer können ihren durch das Erdbeben obdachlosgewordenen Verwandten in Aleppo, Hama oder Latakia kein Geld überweisen. Kein syrisches Krankenhaus kann medizinische Geräte, Ersatzteile, Medikamente oder Generatoren im Ausland kaufen, wenn es diese nicht per Überweisung bezahlen kann. Aufgrund der Sanktionen kann die syrische Ölindustrie keine Ersatzteile kaufen. Ölquellen im Osten des Landes sind von den USA besetzt. Seit Jahren herrscht deshalb ein dramatischer Treibstoffmangel. Ohne Treibstoff können aber Bagger und Krankenwagen, Heizaggregate oder Stromgeneratoren nicht funktionieren.

Warum schweigt die Welt zu den Sanktionen?
Es ist allgemein bekannt, dass die UN-Sonderberichterstatterin zu den negativen Auswirkungen einseitiger Zwangsmaßnahmen, Prof. Alena Douhan, die Sanktionen gegen Syrien in einem Bericht vom 10. November 2022 in die Nähe eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit rückte. Die westlichen Sanktionen sind eine brutale Kriegswaffe zum Zweck des Regimewechsels. Der syrische Staat wird durch die Sanktionen geschwächt. Damaskus kann seinen Bürgern keine sozialen Dienstleistungen mehr anbieten. Unter den Sanktionen leidet vor allem die Zivilbevölkerung.

Aus Syrien kommen aber Klagen, die UN hätten das Land im Stich gelassen. Wie geht das zusammen?
Die Kritik der Regierung in Damaskus bezog sich nicht auf die UN. Schon am Tag des Erdbebens hatte sich das syrische Außenministerium mit einem Hilfeersuchen an alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen gewandt. Ein Sprecher der EU-Kommission aber erklärte am 7. Februar, dass kein Hilfsbegehren aus Damaskus vorliege. Der EU-KatastrophenschutzMechanismus sei daher nur für die Türkei ausgelöst worden.
Damaskus kooperiert mit den Vereinten Nationen. Auf der Münchener Sicherheitskonferenz erklärte David Beasley, Direktor des UN-Welternährungsprogramms (WFP), am 18. Februar gegenüber Reuters, dass die Regierungen in Ankara und Damaskus sehr gut mit dem WFP kooperierten, die Rebellen in Nordwestsyrien jedoch nicht.

Und gerade die bekämpfen die Christen besonders hart. Können Sie sagen, in welcher Form die Christenheit in Syrien speziell betroffen ist?
Alle Syrer im Erdbebengebiet sind betroffen und es ist gute syrische Tradition, keine Unterschiede zwischen den Bürgern des Landes zu machen. Aber es ist wahr, dieses Erdbeben ist eine Katastrophe, zusätzlich zur Katastrophe des Krieges. Ich fürchte, dass nun noch mehr Menschen Syrien für immer verlassen werden – Christen und Muslime. Es besteht die reale Gefahr, dass die syrische Christenheit völlig untergehen wird.

Werden die Syrer von internationalen Hilfsorganisationen benachteiligt?
Bergungsarbeiten für Verschüttete waren in der Türkei und Syrien gleichermaßen notwendig und Nothilfe ist es noch. Doch die Syrer wissen, dass man einen Unterschied zwischen ihnen und den Betroffenen in der Türkei macht. Sie sehen, dass Hilfsflüge von EU-Staaten in der Türkei ankommen. In Damaskus oder Aleppo landet kein EU-Flugzeug. Und die Bundesregierung hat bei ihrer Hilfe für Syrien hauptsächlich das nordwestsyrische Idlib im Sinn, das von islamistischen Kämpfern der Hayat Tahrir al-Scham (HTS), der Nachfolgeorganisation der Nusra-Front, kontrolliert wird. UN-Generalsekretär António  Guterres musste deshalb am 14. Februar betonen, dass humanitäre Hilfe alle Syrer gleichermaßen erreichen müsse und forderte alle Staaten auf, den UN-Hilfsfonds für Syrien in Höhe von 397 Millionen US-Dollar zu finanzieren.

Wie können Europäer den Menschen in Syrien jetzt helfen?
Die EU-Sanktionen gegen Syrien müssen sofort beendet werden. Sie steigern das Leid der Bevölkerung ins Unermessliche. Zudem brauchen die Menschen in Syrien unsere Unterstützung, um täglich zu überleben. Schon vor dem Erdbeben lebten 90 Prozent der Syrer unter der Armutsgrenze. Spenden für Nothilfe in allen ihren Formen sind dringend nötig!

Zur Person

Pfarrer Lic. iur. can. Peter Fuchs, kam 1977 in Tegernsee zur Welt, studierte katholische Theologie und wurde 2002 zum Priester geweiht. Kaplanstätigkeit in Straßburg und Studium des Kirchenrechts an der Universität Straßburg mit dem Abschluss als Lic. iur. can. 2009. Nach Kaplansjahren von 2007 bis 2013 war er von 2013 bis 2016 Pfarrer der Dompfarrei St. Florin in Vaduz im Fürstentum Liechtenstein.
Seit 2016 ist Pfarrer Peter Fuchs Geschäftsführer des Hilfswerks Christian Solidarity International-Deutschland (CSI). Christian Solidarity International (CSI) ist eine christliche Menschenrechtsorganisation für Religionsfreiheit und Menschenwürde.