Alles begann in Berlin

Berlin war für Studenten, die vor über 150 Jahren aus dem Rheinland und Westfalen in die Stadt kamen, eine fremde Welt. Viele stammten aus kleineren Städten, die vom Katholizismus geprägt waren. Ein solches katholisches Milieu fanden sie in der preußischen Hauptstadt nicht. Deshalb waren sie mit Begeisterung dabei, als Berliner katholische Akademiker sie 1853 zur Gründung eines Akademischen Lesevereins einluden. Die Idee des „Katholischen Lesevereins“ verbreitete sich sehr schnell, so dass es bald zur Gründung ähnlicher Vereine an anderen Universitätsstädten wie etwa Breslau, Bonn, Münster und Würzburg kam. Der Berliner Leseverein war zur Keimzelle geworden, aus dem der KV (Kartellverband katholischer deutscher Studentenvereine) entstand, der heute an fast allen deutschen Universitäten vertreten ist.

Neue Ideen und alte Bräuche

Dieser erste Verein in Berlin pflegte weniger das studentische Brauchtum als andere. Bewußt knüpfte er an eine schon ältere Tradition an, die aus sozialen Gründen eine Hervorhebung der Studenten durch studentische Tracht (Bänder in den Farben der Korporation und Mützen) ablehnte. Sie betonten damit ein demokratisch-republikanisches Verständnis der Gesellschaft, in der keine Gruppe, auch nicht äußerlich, hervorgehoben werden sollte. Im Laufe seiner Geschichte hat der KV an der Ablehnung des sogenannten "Farbentragens" festgehalten. Doch haben die Korporationen nach und nach Fahnen angeschafft. Ferner wurde das Tragen  studentischer Uniformen bei besonderen Anlässen üblich. Einige Vereine lehnen aber auch dies bis heute ab. Ein Element, das alle KV-Korporationen gemeinsam haben, ist das regelmäßig tagende demokratische Beschlußorgan, "Convent" genannt. Im Convent beraten und beschließen alle Mitglieder einer Korporation gemeinsam alle Angelegenheiten, der Convent wählt den Vorstand und ihm legt der Vorstand Rechenschaft ab. Ein weiteres wichtiges Element aller KV-Korporationen ist die Lebensfreundschaft, die besagt, dass KVer ihr Leben lang ihrer Korporation verbunden bleiben. Diese Vorstellung ist für uns religiös begründet - eine Form der christlichen Brüderlichkeit. Apropos: Als Katholiken kommt für uns das „Schlagen“, also das studentische Fechten mit scharfen Waffen, nicht in Frage.

Stürmische Zeiten: Kaiserreich und Weimarer Republik

Auch in einer Zeit schwerer Auseinandersetzungen hat sich der KV behauptet: In der Diskussion um die Unfehlbarkeit des Papstes, im Kulturkampf ab 1870/71 und in der Auseinandersetzung um die Akzeptanz des Staates von Weimar. Viele KVer waren damals zwar noch durch die Kaiserzeit geprägt, in der sie sich um die Gleichgewichtigkeit des katholischen Bevölkerungsteils nicht ohne Erfolg bemüht hatten. Jetzt aber stimmten sie aus Vernunft dem Weimarer Staat zu. Bedeutende Politiker jener Zeit kamen aus dem KV, wie etwa der Reichskanzler Wilhelm Marx. Ihn traf dann das traurige Schicksal, nicht mehr genügend Überblick zu besitzen, um als KV-Vorsitzender 1933 eine schnelle Gleichschaltung des Verbandes zu verhindern.

„Staatsfeinde“ -  der KV in der NS-Zeit

Ein Verband katholischer Akademiker war der NS-Diktatur ein Dorn im Auge, was zu seiner Einstufung als staatsfeindlich und damit 1938 zu Verbot und Zwangsauflösung geführt hat. Wenn es auch keinen Widerstand des KVs als Verband gegen den Nationalsozialismus gegeben hat, so haben andererseits viele KVer aktiv am Widerstand gegen Hitler teilgenommen, wie etwa Josef Wirmer, der von den Männern des 20. Juli als Justizminister vorgesehen war und dem der Vorsitzende des Volksgerichtshofes, Roland Freisler, seine Zugehörigkeit zum KV vorgehalten hat.

KVer an der Wiege der neuen Republik

Nach dem Zusammenbruch Deutschlands im Jahr 1945 stellten viele KVer ihre ganze Kraft in den Dienst der neu entstehenden Bundesrepublik als Kanzler, Ministerpräsidenten und Minister. Die bekanntesten unter ihnen sind Konrad Adenauer, der auf seine Zugehörigkeit zum KV  besonderen Wert legte, und Kurt Georg Kiesinger, der sich stets zum KV bekannte. Dass der KV die NS-Zeit überlebte, hängt mit der Lebensfreundschaft zusammen, die Gewalt und Diktatur nicht zerstören konnte. Sie war für viele KVer dann der Antrieb, die durch den Krieg zerstreuten Mitglieder ihrer Korporationen wieder zu sammeln und jungen Männern, die aus Krieg oder Gefangenschaft an die Universitäten strömten, Hilfe beim Start ins Studium und damit in ein neues Leben zu geben. So wurden - manchmal noch in Ruinen - die ersten KV-Korporationen wiederbegründet. Andere  studentische Gruppierungen entstanden neu. Manche von ihnen haben sich später dem KV angeschlossen.

Neue Wege

Als lebendiger Teil von Kirche und Gesellschaft steht der KV  zu seinen Traditionen, bleibt aber Reformen gegenüber offen. So finden sich heute auch evangelischen Christen in seinen Reihen. Die vielfältigen Mitwirkungsmöglichkeiten, mit denen junge Studenten seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts auf die Angelegenheiten des Verbandes Einfluß nehmen können, schaffen ferner ein echtes Miteinander über Generationsgrenzen hinweg.